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Freuds Jahrhundert: Die Geschichte der Psychoanalyse

Was zu Beginn des letzten Jahrhunderts mit den eigenwilligen Forschungen des jungen Doktor Freud begann, hat das Selbstverständnis des Menschen und seiner Kultur verändert wie kaum eine andere Theorie. Eli Zaretsky hat die erste wirklich umfassende Geschichte der Psychoanalyse geschrieben. Sie handelt nicht nur von den prominenten Protagonisten – von Freud und Adler bis zu Lacan – sondern versteht die psychoanalytische Bewegung als einen zentralen Akteur der Geschichte des 20. Jahrhunderts…

freud

Auszüge aus der Einleitung Eli Zaretskys zur Geschichte der Psychoanalyse

Ich nähere mich meinem Thema historisch und soziologisch. Die Psychoanalyse hat ständig neue Begriffe und Theorien entwickelt, um zu erklären, wie gewöhnlich Männer und Frauen die Welt und sich gegenseitig verstehen. Es gibt zahllose Einzeluntersuchungen, parteiergreifende Verlautbarungen und tendenziöse Angriffe, nur als historisches Phänomen wurde die Psychoanalyse bislang nicht betrachtet. Anscheinend fehlt uns noch immer der gesellschaftliche, kulturelle und intellektuelle Rahmen, der für das Verständnis eines für unsere eigene Selbstkonstitution so wichtigen Phänomens unerläßlich ist.

Um die Psychoanalyse historisch zu verstehen, reicht es nicht aus, Freuds Biographie zu kennen, über die Geschichte der Psychiatrie oder Wiens Bescheid zu wissen, so wichtig das alles sein mag. Eine Geschichte der Psychoanalyse muß vor allem erklären, warum sie eine so ungeheure Wirkung entfaltet hat. Daß sie so großen historisch-gesellschaftlichen Einfluß gewonnen hat, ist andererseits aber auch der Grund, der es so schwer macht, der Psychoanalyse gegenüber eine historische Perspektive einzunehmen. Wer diese Perspektive einnehmen möchte, muß einen gewissen Abstand zu seinem Gegenstand halten. Dieser Abstand hat sich erst spät aufgetan, nämlich als der medizinische Erfolg der Psychoanalyse zu schwinden begann. [ … ]

Heute ist es möglich, die Psychoanalyse als Ganzes, in ihren sowohl repressiven wie befreienden Aspekten zu sehen. Voraussetzung dafür ist, daß man die Psychoanalyse als die erste große Theorie und Praxis des »persönlichen Lebens« sieht. »Personal life«: damit meine ich die Erfahrung, daß ich eine Identität habe, die nicht aufgeht in meiner Stellung in der Familie, der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Natürlich ist die Möglichkeit, ein der eigenen Person gemäßes Leben zu führen, ein universaler Aspekt des Menschseins, aber das meine ich nicht. Es geht mir um die historisch spezifische Erfahrung der Singularität und Innerlichkeit, die, soziologisch gesehen, in den Modernisierungsprozessen, die mit der Industrialisierung und der Urbanisierung einhergingen, und in der Geschichte der Familie ihren Ursprung hat.

Früher war die Familie der Hauptort der Produktion und Reproduktion. Die Identität des Individuums war bestimmt durch dessen Stellung in der Familie. Im neunzehnten Jahrhundert führte die (sowohl physische als auch emotionale) Trennung der bezahlten Arbeit vom Haushalt, die für den Aufschwung des industriellen Kapitalismus maßgeblich war, zu neuen Formen von Privatheit, Häuslichkeit und Intimität. Zunächst waren sie das familiale Gegenstück zur unpersönlichen Welt des Marktes. Später und zunehmend sah man darin eine Möglichkeit, ein persönliches, der eigenen Identität entsprechendes Leben jenseits oder gar außerhalb der Familie zu füh ren. Das fand seinen gesellschaftlichen Ausdruck in Erscheinungen wie der »neuen« (der unabhängigen) Frau, des Auftretens von Homosexuellen in der Öffentlichkeit und der Abwendung junger Menschen von der vorrangigen Beschäftigung mit Arbeit und Beruf zugunsten neuer sexueller Erfahrungen, eines freizügigen und auf Genuß gerichteten Lebensstils, aber auch in modernen Formen des künstlerischen Schaffens. In der Periode zwischen 1880 und 1920 – von Historikern als »zweite industrielle Revolution« bezeichnet – boten neue städtische Räume und Medien – Volksbühnen, Variétés, Kinos – Bezugspunkte, an denen sich Vorstellungen von extrafamilialen Identitäten herausbilden konnten. Die je eigene, persönliche Identität wurde Problem und Projekt, sie stand im Gegensatz zu dem, was man durch seine Stellung in Familie und Wirtschaft war. Für dieses neue Interesse an einem persönlichen Leben lieferte die Psychoanalyse Theorie und Praxis. Ihr ursprüngliches historisches Telos war die Entfamiliarisierung, die Befreiung des Individuums von unbewußten Bildern der Autorität, wie sie in der Familie begründet waren.

Die grundlegende Idee der Psychoanalyse, das Konzept eines dynamischen oder persönlichen Unbewußten, war Ausdruck dieser neuen Erfahrung eines persönlichen Lebens. Nach Freuds Vorstellung werden die Reize, die von der Gesellschaft oder der Kultur ausgehen, von den Menschen nicht unmittelbar aufgenommen, sondern zunächst aufgelöst und im Innern so umgebaut, daß sie persönliche, ja unverwechselbar eigensinnige Bedeutungen erhalten. Es besteht also keine unmittelbare oder notwendige Verbindung zwischen der sozialen Lage eines Individuums und seiner Subjektivität. Nicht weniger bedeutsam ist Freuds Annahme, daß das Unbewußte unter modernen Bedingungen keine vorgegebene Übereinstimmung oder Harmonie zwischen den gesellschaftlich geltenden kulturellen Symbolen und der inneren symbolischen Welt des Individuums zeigt. Die Vorstellung eines Unbewußten war Ausdruck der Erfahrung des Auseinanderfallens von öffentlichem und privatem Leben, des Äu ße ren und des Inneren, des Soziokulturellen und des Persönlichen. Natürlich entwickelte die Psychoanalyse auch allgemeine Ideen zu Kultur, Moral und Geschichte. Gleichwohl kehrte sie immer wieder zum Kontingenten und den besonderen Modalitäten zurück, mit denen die Menschen diese Muster in ihrem Leben umsetzen. Schließlich war die Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft der Boden, auf dem die Psychoanalyse ihre Theorien aufbaute und ihre Therapien praktizierte…

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Freuds Jahrhundert: Die Geschichte der Psychoanalyse von Eli Zaretsky.
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