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Max Hodann: Die unterbrochene sexuelle Revolution

In der Rückblende und namentlich aus der Perspektive der »sexuellen Revolution« der 6oer Jahre des vorigen Jahrhunderts kann das Werk Hodanns,  seine Publizistik, pädagogische Technik, Einfühlsamkeit in die gesellschaftliche Relevanz der Sexualproblematik, reformerische Dynamik und schließlich die alles überhöhende Einbindung der Sexualpädagogik in die Sozialhygiene nicht hoch genug eingeschätzt werden…

Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft: Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933.
Eine Geschichte in sieben Profilen

Von Wilfried Heinzelmann

Aus Kap. 17.3 Max Hodann
Ergographischer Überblick

Im Kontrast zu dieser Bewertung wiegt es schwer, dass die sexual-wissenschaftliche und -pädagogische Literatur aus dem 1. Jahrhundertdrittel,  einschließlich der Hodanns, in den Bibliotheken der Tabuisierung und  Indizierung verfiel und folglich der Zugang zu den literarischen Quellen  heute erheblichen Hindernissen ausgesetzt ist.

Zudem wurde das schmale  Jahrzehnt der höchsten literarischen Produktion 1923-1933 durch die tragischen Ereignisse des Exiljahrs noch zusätzlich verkürzt, als dass es über  den Exilzeitpunkt hinweg noch im wesentlichen Umfang zu Neuauflagen  seiner Schriften hätte kommen können. Persönlich und sachlich verkörpert  Hodann auf seinem Spezialgebiet vom theoretischen Ansatz bis zum praktischen Einsatz alles, was sich Grotjahn unter einer wissenschaftlich realisierten Sozialhygiene vorgestellt hat.  Die amtliche Geschlechtskrankenfürsorge als gesellschaftliche Infektionsprophylaxe war ein genuines Gebiet der Sozialhygiene, das weitere  Arbeitsfelder wie Eugenik, Schwangerschafts- und Eheberatung, Geburtenregelung, Schwangerschaftsabbruch und Mütterberatung einschloss.

Hodann befürwortete seit seiner Promotionsarbeit die Verbindung von Beratung und Therapie. Entscheidend aber war, dass er das Ressort unter sexualwissenschaftlichen Gesichtspunkten auf eine qualitativ einzigartig verbreiterte Grundlage stellte. In seinem sozialhygienischen Konzept vereinten sich  Erkenntnisse aus Sexualwissenschaft, Reformpädagogik, Jugendbewegung,  Marxismus und Psychoanalyse. In Sexualberatung, Publizistik, Vortragsarbeit und Klienten-Korrespondenz entwickelte er eine Sexualpädagogik,  die neuartige gesundheitspflegerische und -fürsorgerische Elemente in die sozialhygienische Praxis einbrachte. Es ging nicht länger nur um körperliche Krankheit oder Bedrohung, sondern um epidemieartig verbreitete gesellschaftliche Devianzen ohne somatischen Krankheitscharakter wie Onanie oder Homosexualtiät u.a., die der »sozialen Pathologie« anzurechnen  waren.

Hodann erblickte seine Aufgabe auf der Beratungsstelle und in der  Öffentlichkeit (Vorträge, Fragezettel, Korrespondenz) in der sexualpsychologischen Befreiung durch Aufklärung (››enlightment«) auch über den repressiven Charakter des herrschenden patriarchalischen Gesellschaftssystems.

Die Weimarer Republik bot mit ihrer freiheitlichen Verfassung und  ihrem demokratischen Staatsideal einen günstigen Nährboden für die Inangriffnahme einer von vielen als allseits fällig betrachteten durchgreifenden  Gesellschaftsreform. Ältere und neuere gesellschaftlich fortschrittliche Zeitströmungen erlebten einen enormen Aufschwung. Erheblich an Beachtung  und Einfiuss in weiten Publikumskreisen gewannen in den 20er Jahren die auf weit entwickelte Sexualwissenschaft gestützte Sexualreformbewegung,  die Frauenbewegung und die Reformpädagogik. Alle drei Aktionsgruppen  verzeichneten Berührungspunkte mit der Sozialhygiene, aber erst in Person  und Arbeit Hodanns wurden die Beziehungen evident. In Sexualwissenschaft und volksnaher Beratungspraxis erarbeitete Hodann eine neue Sexualpädagogik. Immer drängte er dabei auf gesellschaftliche Veränderung, weil die Gesellschaft in allen ihren Gruppierungen (Elternhaus, Schule, jugendliche Arbeits- und Freizeitwelt) der Sexualität in  ihrer Sozialordnung nur mit Repression begegnete. Auf diese Weise schürte  sie in der Jugend auf dem Sexualgebiet nur Unwissenheit und Einschüchterung, die sie hilflos zurückließen gegenüber dem elementaren Druck ihrer  eigenen sexuellen Reife.

In der Wiedergabe seiner Beratungskorrespondenz dokumentierte Hodann das unter der herrschenden Gesellschaftsmoral verdrängte Sexualelend, das dem im äußerlichen Gesellschaftsbild dominierenden sozialen Elend sicherlich in nichts nachstand (Sexualelend und  Sexualberatung. Briefe aus der Praxis. 1928).  Ausgehend von der Gleichberechtigung der Geschlechter, zielte Hodanns Sexualpädagogik dagegen auf sexuelle Befreiung. Als ihre Grundpfeiler rangierten die wohlweislich voneinander zu unterscheidenden Verfahren  der Sexualauklärung und der Sexualerziehung. Die erstere vermittelt von  Kindheit an Sexualwissen, die zweite verwendet dieses Wissen vornehmlich bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen zur Persönlichkeitsgestaltung im Sinne einer Einordnung des Liebeserlebens in die eigene personale  Existenz.

Die Hauptlast der Sexualpädagogik überlässt er nicht den Eltern,  sondern verteilt sie auf die pädagogisch kompetenten gesellschaftlichen  Formationen Schule und Jugendgruppen (schulische und außerschulische  Gesundheitserziehung). Hier erwirbt die junge Generation im offenen und  ungezwungenen Dialog im Geiste einer neuen gesellschaftlichen Ordnung sexuelles Selbstbewusstsein. Befreite Sexualität ist innnerhalb der  bestehenden Gesellschaftsordnung auf Dauer zwar nicht vorstellbar, aber  dennoch verbietet sich die Instrumentalisierung der sozialärztlichen Sexualerziehung als Mittel zum politischen Zweck. Absoluter Vorrang gebührt  der Hilfe für die Betroffenen in der konkreten Situation, in die die politische  Reflexion allenfalls mit einfließen darf.

Auf jeden Fall erhoffte sich Hodann, nicht ganz widerspruchsfrei, durch  seine Sexualpädagogik eine gesellschaftsverändernde Einwirkung durch  Aufbrechen moralisch-repressiver Strukturen. Hodanns Ideen über eine repressionsfreie Sexualmoral fügen sich auch gut ein in den breiten Kontext  der Lebensreformbewegung, ihrer befreienden Gesundheitsorientierung  und Jugend-/ Körper-Kultur.

Seine ››Lehrbücher« schrieb Hodann für Menschen aller generativ relevanten Altersstufen in verständlicher, der Zielgruppe angepassten Sprache,  zwei seiner erfolgreichsten Bücher sind in Dialogform abgefasst (Bub und  Mädel 1924; Geschlecht und Liebe in biologischer und gesellschaftlicher Beziehung, 1927). Sein fachpädagogisches Hauptwerk (Sexualpädagogik. Erziehungshygiene und Gesundheitspolitik 1928) enthält Aufsätze aus mehr  als einem Jahrzehnt. Als »wissenschaftliches Vermächtnis« Hodanns gilt  sein im Exil entstandenes Buch »History of Modern Morals«, 1937: in dieser  Geschichte der sexuellen Befreiung schildert er die wissenschaftlichen und  gesellschaftlichen Stufen der Sexualreform vornehmlich aus der Sicht der  von ihm miterlebten Entwicklung in Deutschland.

Repressionsbedingte  Indizierung, politische Intransigenz und Antisemitismus löschten trotz  seiner ungewöhnlichen Publikumswirksamkeit zu Lebzeiten Werk und  Schicksal Hodanns aus dem kollektiven Bewusstsein der Nachfahren.

Aus dem 17.3 Kap.:
Sozialhygiene als Gesundheitswissenschaft: Die deutsch/deutsch-jüdische Avantgarde 1897-1933.
Eine Geschichte in sieben Profilen
Von Wilfried Heinzelmann

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