Das amerikanische Ausbildungssystem sowohl der Medizinstudenten als auch der Ärzte in der Facharztausbildung ist so ausgelegt, dass sich die Auszubildenden – auch in ihrem späteren Berufsleben – unbewusst ständig in der Nähe psychosomatischen Denkens und Handelns bewegen…
Ernst-Albrecht Günthert, Psychosomatische Urologie
Unter vielen anderen Bausteinen vermittelt in den USA allein schon das „bedside-teaching“ ab dem dritten Studienjahr eine Nähe zum Patienten, aus der sich dann ein enges Arzt-Patienten-Verhältnis entwickelt. Das amerikanische System legt großen Wert darauf, dass der Arzt in Ausbildung alle Patienten, insbesondere Patienten, die einens operativen Eingriffs bedürfen, von der
Erstbegegnung in der Poliklinik oder anlässlich der Krankenhauseinweisung bis zur Beendigung der gesamten, nicht nur der stationären, Behandlung durchgehend begleitet und betreut. Das bedeutet, dass Anamnesegespräch, Diagnosestellung, Planung, Festlegung und Durchführung der Behandlung, aber auch die Nachbehandlung ebenso wie der Kontakt mit den Angehörigen in ein und derselben Hand liegen. Erst dann wird der Patient wieder seinem Hausarzt übergeben. Dabei wird der junge Arzt in der Facharztausbildung in der Regel vom „chief-resident“ (Oberarzt) und von einem „assistent-professor“ beratend und helfend betreut. Parallel dazu begleiten ein „intern“ (AIP) sowie in akademischen Krankenhäusern auch ein Student im klinischen Semester („extern“) den Patienten ebenfalls von der Erstbegegnung bis zu seiner Entlassung. „Intern“ und Student stellen aufgrund ihrer eigenen persönlichen Anamneseerhebung und Körperuntersuchung eine eigenständige Diagnose, die differenzialdiagnostisch schriftlich zu begründen ist. Darüber hinaus entwerfen sie, neben vorzuschlagenden Labor- und technischen Untersuchungen, einen schriftlichen Behandlungsplan, der dann mit den übergeordneten Kollegen diskutiert sowie von diesen überwacht und beratend begleitet wird.
Alle medizinischen Handlungen vor und nach einer Operation, wie Verbands- oder Katheterwechsel, werden vom Arzt – sehr oft dem Operateur persönlich – vorgenommen. Blutabnahmen und Infusionen obliegen dem „intern“, dem der beigeordnete Medizinstudent assistiert und auf diesem Weg erste praktische Erfahrungen nicht nur in der intravenösen Technik, sondern auch in der Technik der Lumbalpunktion oder dem Einlegen einer Magensonde – als Beispiele – sammeln kann. Neben der Umsetzung praktischer Erfahrungen in allen Bereichen der Medizin entsteht auf diese Weise ein enges und persönliches Arzt-Patienten-Verhältnis. Diese Grundeinstellung wird auch in die spätere Berufsausübung, im Krankenhaus oder in der eigenen Praxis, hineingetragen.
Unter den vielfältigen urologischen Erkrankungen kamen in die tägliche Sprechstunde der urologischen Poliklinik auch zahlreiche, meist junge Männer mit diffusen Beckenbeschwerden, die unter der Bezeichnung „prostatitis“ („Prostataitis“) liefen, obwohl die Untersuchungen in der Mehrzahl der Fälle keine erklärenden, von der Prostata ausgehenden Ursachen ergaben. Dies ist ein Hinweis auf die langjährige, weltweit heute noch vorherrschende, unselige Einschätzung vieler Urologen, diffuse Beckenbeschwerden des Mannes unbedacht der Prostata zuzuordnen.
Da bei jedem Poliklinikbesuch in der Krankenakte vermerkt werden musste, ob Diagnose oder Behandlung beibehalten werden oder geändert werden müssen, enthielten die meisten Krankenblätter Betroffener mit diffusen Beckenbeschwerden unter der Rubrik Behandlung den Eintrag „councelling“ (Beratungsgespräch). Es handelte sich dabei um nichts anderes als um ein Therapiegespräch, wenn auch diese Bezeichnung in Amerika nicht üblich war. Obwohl – wie erwähnt – die „Psychosomatische Medizin“ damals wie heute in Amerika kaum beachtet wird, wurde bei „diffusen Beckenbeschwerden des Mannes“ bewusst vermieden, weiter und wiederholt nach möglichen körperbedingten Ursachen in der Prostata zu suchen, sondern man war vielmehr bemüht, den Patienten beruhigend beizustehen. Das heiße Sitzbad stand an erster Stelle der aktiven Behandlung. Phytopharmaka waren damals in Amerika nicht üblich. Sie wären wohl auch nicht verordnet worden, da man immer darauf bedacht war, den Patienten nicht auf eine unbewiesene Krankheit zu fixieren. Unnötige und wiederholte Untersuchungen sollten ebenfalls unterbleiben, denn in Amerika wird auf vermeidbare Kosten geachtet.
Nach meiner Rückkehr aus den USA und meiner Niederlassung als Urologe stand ich dann in Eigenverantwortung vielen, meist jungen Männern mit diffusen Beckenbeschwerden gegenüber. Viele kamen schon mit der Diagnose „Prostatitis“, die andere Urologen gestellt hatten. In den meisten Fällen ergab jedoch die Untersuchung der Prostata keine krankhaften Befunde. Nur bei einer kleinen Minderheit der Männer mit diffusen Beckenbeschwerden fanden sich von der Norm abweichende Befunde im Prostataexprimat.
In Eigenverantwortung begann ich nachzudenken. Deshalb habe ich die eingehende Anamnese, insbesondere die genaue Erfassung der Beschwerden im Einzelnen, in den Vordergrund gerückt und festgestellt, dass Männer mit diffusen Beckenbeschwerden vornehmlich Symptome angeben, die nicht zur Prostata passen. Schon früh hat mich gestört, dass – selbst bei bakteriellen Exprimatbefunden – heiße Sitzbäder verordnet wurden, ein Widerspruch zur klassischen Entzündungstheorie, nach der bei einer Entzündung Kühlung angezeigt wäre. In gleicher Weise störend fand ich die Tatsache, dass viele Männer jeden Alters bakterielle Exprimatbefunde hatten, die jedoch keine Beschwerden verursachten. Es stellte sich die Frage, warum die lokal angewendete Wärme aber tatsächlich die Beschwerden dennoch lindert.
Bald behandelte ich bakterielle Befunde im Prostataexprimat nicht mehr antibakteriell, sondern versuchte, mit blanden Maßnahmen wie der Anwendung von lokaler Wärme sowie mit erklärenden und beruhigenden Gesprächen und dem Hinweis auf eine Beschwerden verursachende Muskelspannung im Beckenboden meinen Patienten mit diffusen Beckenbeschwerden gerecht zu werden. Meine Behandlungsergebnisse waren nicht schlechter, sondern in der Regel besser als die der Kollegen, die Beckenbeschwerden als Prostatitis mit Antibiotika behandelten, auch dann wenn keine bakteriellen Befunde im Prostata exprimat Vorlagen. Der akute Schub einer bakteriellen Prostatitis mit schwer wiegenden Krankheitssymptomen galt für mich schon immer als eigenständiges Krankheitsbild mit typischer Symptomatik, das auf gezielte und testgerechte antibakterielle Behandlung rasch und gut anspricht, das heißt weder diagnostische noch therapeutische Probleme bereitet.
Mit der Zeit und zunehmender Erfahrung wurde mir bewusst, dass nicht nur Männer mit Beckenbeschwerden sehr oft keine erklärenden Körperbefunde aufweisen, sondern auch bei Frauen Beschwerdebilder im Urogenitalbereich Vorkommen, die sich nicht durch Körperbefunde erklären lassen. Mit sehr unguten Gefühlen denke ich noch heute an einige, meist junge Frauen mit akuten, anfallweise auftretenden, punktuellen Schmerzen am Harnröhrenausgang und im Bereich der Klitoris, für die es keine erklärenden ursächlichen Körperbefunde gab. Bis ich gelernt habe, dass es sich hier um ein psychosomatisches Urethralsyndrom (s. Kap. 9.2) handelt, stand ich ihnen genauso hilflos gegenüber wie die Kollegen, die vorher versucht hatten, den schwer leidenden Frauen zu helfen. Viele Beobachtungen und auch konkrete Erkenntnisse haben mir zunehmend bewusst gemacht, dass die zur Verfügung stehenden apparativ-instrumentellen Mittel nicht ausreichen, um bestimmten Patienten gerecht zu werden. Als mein einziges Kind an Leukämie erkrankte und später daran starb, nahm ich psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Aufgrund der Aufgeschlossenheit meines Analytikers konnte ich auch viele Probleme aus meiner täglichen Sprechstunde einbringen. So entwickelte sich meine Therapie zu einer Art Lehranalyse, die mir auch den Zugang zu psychosomatischem Geschehen eröffnete. Unter diesem Gesichtspunkt sah ich dann viele Kranke und ihr „Kranksein“ aus einer neuen Perspektive. Die Berücksichtigung des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem Patienten in seiner individuellen Wirklichkeit und seinem Kranksein gehörten bald zum unabdingbaren „Credo“ meiner ärztlichen Tätigkeit.
Als Co-Autor des Kapitels „Urologie“ in dem umfassenden Handbuch „Psychosomatische Medizin“ von Thure von Uexküll hatte ich dann schon früh Gelegenheit, mich mit der psychosomatischen Urologie auf wissenschaftlichtheoretischer Ebene auseinander zu setzen. Die Tatsache, dass das Kapitel „Urologie“ in jeder Auflage – auch in der aktuellen siebten Auflage (2011) – neu gestaltet werden musste, spricht nicht nur dafür, dass laufend neue Erkenntnisse über psychosomatische urologische Erkrankungen gewonnen werden, sondern auch dafür, dass sich das Wissen über psychosomatisches urologisches Kranksein ständig „im Fluss“ befindet.
Schließlich lieferten 1977 die klinischen Studien von Sinaki et al. an der Mayo Clinic in den USA und später die erhellenden Untersuchungen von Travell und Simons (1992) über „myofasziale Schmerzen und Triggerpunkte“, ebenfalls in Amerika, Grundlagen für das Verständnis der pathophysiologischen Entstehung von Beschwerden und Schmerzen im Urogenitalbereich, die nicht mit den herkömmlichen Untersuchungsmethoden erfasst werden können. Die Erkenntnis, dass Beschwerden verursachende, psychoreaktive, muskuläre Spannung viele Beschwerdebilder im Urogenitalbereich als funktionelle Somatisierungsstörungen mit Spannungscharakter erklären, sehe ich als den wichtigsten Durchbruch in der psychosomatischen Urologie. Sie stehen im Mittelpunkt dieses Buches.
Nicht nur urologische Krankheitsbilder erweckten meine psychosomatischen Interessen. Die sexuellen Funktionsstörungen erwiesen sich in hohem Maße als somatoforme Funktionsstörungen. So hat sich das Feld psychosomatischen urologischen Krankseins stetig erweitert. Die Behandlungserfolge vor dem Hintergrund psychosomatischen Denkens und Handels bestätigen meine Einstellung und Einschätzung vieler Beschwerde- und Krankheitsbilder im Urogenitalbereich. Ich hoffe, dass ich dies in dem nachfolgenden Text deutlich machen kann.
Psychosomatische Urologie: Leitfaden für die Praxis
Schriftenreihe der Thure von Uexküll-Akademie für Integrierte Medizin
Von Ernst A Günthert
Preis: € 29,99
[…] Ausbildung: Psychosomatik und Urologie in Amerika Bindungstrauma und Schamüberflutung […]