Schmerzen werden in verschiedenen Kulturen unterschiedlich wahrgenommen und gedeutet. Die Schmerzenpfindungsschwelle ist bei allen Völkern gleich. Sternbach u. Tursky (1965) führten Empfindungsschwellenmessungen bei Frauen verschiedener ethischer Gruppen (Italienerinnen, Jüdinnen, Irinnen und Frauen alteingesessener amerikanischer Familien) durch, ohne signifikante Unterschiede zwischen den Gruppen festzustellen…
Melzack (1978) deutet dies als Hinweis, dass der sensorische Leistungsapparat bei allen Menschen ähnlich funktioniere. Die Toleranzwerte gegenüber Schmerzen sind dagegen unterschiedlich, nach Sternbach et al. (1974) zeigten Italienerinnen die niedrigsten Schmerztoleranzwerte. Italienische und jüdische Frauen demonstrierten deutliche Schmerzreaktionen, während amerikanische und irische Frauen durch wesentlich höhere Schmerztoleranz auffielen.
Allgemeine Bedeutung des Phänomens Schmerz / Schmerzerleben
Ethnische Unterschiede der Schmerzäußerung und Schmerzverhaltensreaktion sind abhängig von der Wertigkeit und Deutung des Schmerzes in einer Kultur sowie vom Schmerzbegriff. Schmerzen werden entweder als sinnlose Unvollkommenheit der Natur erkannt, die ertragen werden müssen, oder ihnen wird ein bestimmter Sinn zuerkannt und eine bestimmte Funktion zugesprochen. Erst im 17 Jahrhundert wird endgültig die Trennung der Einheit des Schmerzerlebens in einen somatischen und einen emotionalen Schmerzbegriff vollzogen. Je nach der Sinngebung und dem Differenziertheitsgrad des Schmerzbegriffs werden zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Schmerzbewältigungsstrategien angewandt.
Ethnokulturelle Unterschiede des Schmerzerlebens und der Schmerzäußerung wurden in der klassischen Studie von Zborowski (1952) durch Beobachtungen und Interviews an irischen, jüdischen, italienischen und alteingesessenen amerikanischen (Protestanten britischer Abstammung) Schmerzpatienten untersucht. Die Patienten litten an Rückenbeschwerden und Erkrankungen Diskushernien und Wurzelreizsyndromen. Die Familienangehörigen wurden in die Studie einbezogen und hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber Schmerz und erzäußerungen der Patienten befragt. Jüdische und italienische Patienten zeigten besonders emotionale Schmerzreaktionen. Beide Gruppen haben eine niedrige Schmerztoleranz.
Jüdische Patienten waren kritisch bis ablehnend eingestellt gegenüber der vom Arzt gegebenen Erklärung der Schmerzursache und seiner vorgeschlagenen Schmerztherapie. Die Italiener drängten auf sofortige Hilfe, die sie dann auch schnell zufriedenstellte. Amerikaner zeichneten sich durch zurückhaltende und nüchterne Einschätzung der Schmerzen aus und ertrugen die Schmerzen, wenn nötig auch länger, ohne entsprechende Schmerzäußerungen. Irische Versuchspersonen zeigten sich ebenfalls zurückhaltend im Schmerzausdruck, zogen sich von Familie und Freunden zurück, unter anderem um ihren Schmerz unbeobachtet zu erleiden.
Untersuchungen zur Schmerzwahrnehmung und zum Schmerzerleben bei den Cabuntoguee wiesen nach, dass bei diesen Schmerzfaktoren sehr viel stärker betont werden als in unserer abendländischen Gesellschaft (Kohnen 1990). Neuere Untersuchungen zum Schmerzbegriff in der BRD zeigen aber, dass auch bei Deutschen die psychischen Faktoren einen größeren Raum einnehmen als es Ärzte bisher annehmen. Nun wäre es unangebracht, der Majorität ein bezogen auf den Schmerzbegriff der Ärzte erweitertes Schmerzerleben zuzusprechen, vielmehr ist es so, dass die naturwissenschaftlich ausgebildeten Mediziner einen rein auf den somatischen Aspekt reduzierten Schmerzbegriff haben. Ein Grund hierfür ist, dass der Schmerzbegriff im Sprachgebrauch der Ärzte operationalisiert wurde und Schmerzen im ärztlichen Gespräch in einer bestimmten Funktion und zu einem bestimmten Zweck eingesetzt werden. Schmerz ist für sie dasjenige Zeichen, durch das Ärzte in ihrem organpathologischen Krankheitsverständnis den Ort der Gesundheitsstörung zu lokalisieren versuchen.
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