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Kulturelle Aspekte der Schmerzbewältigung

Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Menschen Strategien entwickelt, um allgemeine und besondere Lebenssituationen zu bewältigen und die basalen Bedürfnisse der Menschen unter ihren spezifischen Lebensbedingungen zu erfüllen. Diese Strategien, Lebensentwürfe und Handlungstaktiken, nennen wir Lebensbewältigungsstrategien…

Schmerz und Krankheit sind nur besondere Fälle der allgemeinen Lebenssituation, und aufgrund des basalen Bedürfnisses nach Wohlbefinden und Gesundheit sind entsprechende Schmerz- und Krankheitsbewältigungsstrategien zur Bewältigung von Schmerz und Krankheit und zur Erfüllung dieses besonderen Bedürfnis entwickelt worden.

Solange der Schmerz als ein wesenhaft unveränderbares Erbübel der gefallenen Schöpfung gilt, kann er nur ertragen, bewältigt, bearbeitet, bestenfalls gemildert, beschwichtigt, gelindert, aber nicht grundsätzlich bekämpft werden. An der Existenz des Schmerzes ist nichts zu ändern, sie kann nur gedeutet werden als Plage des Teufels, als Zeichen der Macht des Bösen, als Folge von Sünde und Schuld, als Strafe, lat. »poena«, das im Angelsächsischen und Deutschen als »pain« und »Pein« (frz. la peine = Kummer) einfachhin die Bedeutung »Schmerz« angenommen hat.

Zu diesem so als Grundübel charakterisierten Schmerz kann der Mensch nur bestimmte Haltungen einnehmen: er kann ihm trotzen, wie der Held; er kann ihn zu leugnen versuchen, wie der Stoiker; er kann als Christ in ihm das Zuchtmittel eines liebenden Vaters sehen, sich ihm willig unterwerfen, ihm auch »opfern«. Der Mensch kann den Schmerz in der einen oder anderen Form dulden und ertragen, aber er kann ihn nicht beseitigen oder ausschalten. Alle diese auch heute noch wirksamen Formen des Versuches der Schmerzüberwindung sind in dem jahrtausendelangen Umgang mit der unveränderlichen Wirklichkeit des Schmerzes ausgebildet worden. Dabei haben sich in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Verhaltensstrategien bewährt. Erst in der Neuzeit werden diese traditionellen Schmmerzbewältigungsstrategien durch die universal wirksame rationale und naturwissenschaftlich begründete Schmerzbeseitigung erweitert.

Je nach Kultur werden bei Schmerzen unterschiedliche Verhaltensweisen beobachtet. Die bekanntesten 5 Schmerzbewältigungsstrategien sind:
die fatalistische (philippinische),
die religiöse (jüdische),
die willentliche (irische),
die familiäre (italienische),
die rationale (nordamerikanische).

Ausländische Patienten äußern nicht nur Schmerzen auf dem Hintergrund dieser erlernten Schmerzbewältigungsstrategien, sie gebrauchen den Begriff bei mangelnder Sprachkenntnis auch als Synonym für Krankheit (Ots 1988).

Schmerzbewältigungsstrategien sind gekennzeichnet durch eine strategische Leitüberzeugung, die Kontrollüberzeugung, eine strategische Verhaltensweise, das subjektive Verhalten zum Schmerz, und eine strategische Handlungsanweisung.

1. Fatalistische Schmerzbewältigung (Filipinos)

Bei traditionell lebenden Filipinos ist die Kontrollüberzeugung so gering, dass sie überzeugt sind, dass nur Gott ihnen helfen und Krankheit oder Schmerzen beseitigen kann. Sie verhalten sich duldend gegenüber den Schmerzen und beklagen ihr Schicksal. Die eigene Initiative, eine Diagnostik zur ursächlichen Behandlung des Schmerzes einzuleiten, ist äußerst gering, die symptomatische Behandlung mit Schmerzmitteln dagegen weit verbreitet. Auch magische Behandlungsformen konnten wir in den abgelegenen Gebieten noch beobachten. Sie sind hervorragend in der Lage, das Krankheits- und Schmerzerleben (den emotionalen Aspekt) zu beeinflussen, während sie keine körperliche Änderung herbeiführen (Kohnen 1986,1992).

2. Religiöse Schmerzbewältigung (Juden)

Der religiöse Jude ist überzeugt, dass nur Gott bei der Lebens- und Schmerzbewältigung wirklich hilft. Was geschah mit dem armen Hiob im Alten Testament? Gott sandte ihm Schmerzen und Krankheit, um ihn zu prüfen, ob er standhaft im Glauben sei. Was wollte Gott ihm damit sagen? Es war für den Gläubigen die einmalige Chance, sein Leben nach Prüfung zu ändern und andere Wege zu gehen. Krankheit und Schmerzen können Zeichen Gottes sein, einen heilvolleren Lebensweg einzuschlagen. Man verhält sich zum Schmerz so, dass er ertragen und erduldet werden muss, damit das Zeichen und die Botschaft Gottes erkannt wird.

Er wird geäußert und er ist lästig, weswegen Wehklagen durchaus erlaubt ist, aber er sollte nicht durch Medikamente beseitigt oder völlig unterdrückt werden. So hat man beobachtet, dass die Schmerztabletten bei gläubigen Juden oftmals ohne eingenommen zu werden vom Nachttisch des Krankenbetts verschwanden (Zborowski 1952). Schmerzen erhalten einen besonderen Sinn. Libyer und Syrer bestätigten, dass auch die gläubigen Moslems Schmerz und Krankheit als Zeichen ihres Gottes deuten (persönliche Mitteilung, Kohnen).

 3. Willentliche Schmerzbewältigung (Iren)

Die strategische Leitüberzeugung der willentlichen Schmerzbewältigung ist: Ich werde den Schmerz nicht zulassen, sondern ihn unterdrücken. Folglich werde ich mich in die Einsamkeit zurückziehen und den Schmerz ertragen. Die Kontrollüberzeugung lautet: Ich allein werde mit meinem Willen den Schmerz bewältigen.

4. Familiäre Schmerzbewältigung (Italiener)

Die traditionelle Form der Lebensbewältigung bei Italienern und Türken ländlicher Herkunft lautet: Schwierige Lebenssituationen werden durch Unterstützung der Familie bewältigt. Bei Krankheit und Schmerzen wenden sich traditionell lebende Italiener und Türken deshalb an die Familie. Sie sind überzeugt, dass die Familie bei der Lebens- und Schmerzbewältigung durch familiäre Unterstützung und soziale Zuwendung hilft.

Nun kann nur demjenigen geholfen werden, der seine Hilfsbedürftigkeit (deutlich) äußert. Das Verhältnis zu Schmerzen ist also dadurch gekennzeichnet, dass Schmerzen zugelassen werden und ihr Erleben deutlich gegenüber anderen geäußert wird. Die Handlungsanweisung beim Erleben von Schmerzen lautet: die Notwendigkeit oder den Wunsch nach sozialer Zuwendung anderen deutlich präsentieren.

5. Rationale Schmerzbewältigung (Nordamerikaner: Protestanten britischer Abstammung, Nordeuropäer)

Die Kontrollüberzeugung lautet: Wenn ich meine Schmerzen so präzise wie möglich beobachte und dem Arzt beschreibe, dann kann er am sichersten die Lokalisation der Gesundheitsstörung herausfinden, die Krankheit diagnostizieren und eine ursächliche Therapie einleiten. Ich bin überzeugt, dass Schmerzen technisch und fachlich bewältigt werden sollen. Dies setzt ein bestimmtes Verhalten gegenüber den Schmerzen voraus: Ich werde sie nüchtern, ohne emotionale Beteiligung, objektiv beobachten und schildern. Sofortiges Handeln, Einholen einer fachlichen Beratung, ist angesagt.

s. Lexikon der Schmerztherapie, H.H. Waldvogel (Hsg.)

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