Archivsuche

Büchersuche

Archiv (chronolog.)

Die neurobiologischen Grundlagen des Psychischen

Seit der Antike wird das Gehirn als „Sitz“ oder zumindest als „Werkzeug“ der Seele angesehen. Wo genau die Seele sitzt bzw. wo und wie sie auf das Gehirn einwirkt, das war bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts umstritten. Vieles war damals noch ganz rätselhaft, z. B. die Funktion der Ventrikel, der grauen und weißen Substanz, der Nervenfasern und der „Ganglienkugeln“ und insbesondere die Art der Erregungsfortleitung im Gehirn….

Gerhard Roth (Geleitwort zu Neurobiologie und Psychotherapie)

Mit dem Aufkommen leistungsfähiger Mikroskope und histologischer Techniken, der Elektrophysiologie, der Neuropharmakologie und schließlich der bildgebenden Verfahren wurde in den vergangenen 150 Jahren eine fast unübersehbare Fülle an Kenntnissen über den Bau und die Funktion des Gehirns der Tiere und des Menschen angehäuft. Natürlich nahm auch die Psychiatrie in dieser Zeit einen großen Aufschwung, und mit einiger Verzögerung hatten auch Psychotherapien systematische Erfolge zu vermelden. Aber den Sitz der Seele hat man noch nicht gefunden, und auch die berühmte Aussage Wilhelm Griesingers von 1845, psychische Erkrankungen seien Hirnerkrankungen, wartet noch auf ihre endgültige Bestätigung.

Ebenso scheiterte Ende des 19. Jahrhunderts der höchst begabte junge Neurobiologe Sigmund Freud mit dem Vorhaben, seine Vorstellungen des Psychischen neurobiologisch zu fundieren. Aus heutiger Sicht suchte er am falschen Objekt (dem Neunauge) am falschen Ort (dem Hirnstamm) und mit den falschen Mitteln (einer relativ groben Neuroanatomie).

Seit Freuds Zeiten scheinen wir durchaus viel mehr über die Beziehung zwischen „Seele“ und Gehirn zu wissen. Klar ist, dass das Psychische in seinen vielfältigen Erscheinungsformen eng mit den Aktivitäten des limbischen Systems verbunden ist, und dass psychische Erkrankungen ganz offenbar mit Fehlfunktionen limbischer Zentren und ihrer Interaktion untereinander sowie mit kognitiven Hirnzentren zu tun haben.

Bedeutende Erkenntnisse entstammen der Aufklärung der Geschehnisse im limbischen System auf zellulärer, molekularer und genetischer Ebene, d. h. der Ebene der Transmitter, Neuropeptide und Neurohormone und ihrer jeweiligen Rezeptoren, deren Verteilung und Dynamik.

Dabei stehen das Stressverarbeitungssystem (Noradrenalin, Cortisol),
das serotonerge „Selbstberuhigungssystem“,
das dopaminerge Motivations- und Belohnungssystem
und das Oxytocin-Bindungssystem im Vordergrund.

Eine wahre Revolution für das Problemfeld Psyche-Gehirn bedeutet die Einsicht in die Auswirkungen, die vorgeburtliche und früh-nachgeburtliche traumatisierende Umwelteinflüsse auf diese psycho-neuronalen Systeme haben, und wie sie mit genetischen bzw. epigenetischen Mechanismen wechselwirken. Die Lösung des uralten Anlage- Umwelt-Problems scheint in greifbare Nähe gerückt zu sein. Dennoch ist ein wirkliches Verständnis der neurobiologischen Grundlagen des Psychischen, seiner Erkrankungen und insbesondere seiner therapeutischen Behandlung noch nicht erreicht. Das liegt sicherlich vor allem an methodischen Problemen, indem z. B. viele tierexperimentelle Befunde sich nicht ohne Weiteres auf den Menschen übertragen lassen, oder dass die Aussagen der funktionellen Bildgebung trotz großer Fortschritte oft noch zu uneindeutig sind.

Ein weiterer Grund ist, dass psychische Erkrankungen viel individualisierter ablaufen und heterogener sind als bisher angenommen. Die äußerst wichtige neurobiologische Validierung psychotherapeutischer Verfahren stellt eine große Herausforderung dar, bei der erst wenige Erfolge zu verzeichnen sind. Messungen an Gehirnen einer genügend großen Zahl psychisch kranker Menschen während des Verlaufs einer mehrmonatigen oder gar mehrjährigen Therapie und der Vergleich mit Kontrollpersonen können sich schnell zu einer Sisyphus-Arbeit entwickeln, wie mir aus eigener Erfahrung bekannt ist. Dennoch ist die Erforschung der neurobiologischen Grundlagen des Psychischen, seiner Erkrankungen und seiner Behandlungen eine der größten Herausforderungen und wichtigsten Gegenstände der Wissenschaft – insbesondere in Hinblick auf ihre praktisch-gesellschaftliche Relevanz.

Von Georg Juckel und Marc-Andreas Edel erschien im November 2013 das Buch „Neurobiologie und Psychotherapie: Integration und praktische Anwendung bei psychischen Störungen“ beim Schattauer Verlag (geb. 44.99€).

1 comment to Die neurobiologischen Grundlagen des Psychischen