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Leben und Tod: Transplantation und Richtlinienstreit

Dass in Deutschland täglich Menschen sterben, weil ihnen kein Spenderorgan zugeteilt werden kann, hat sich inzwischen hoffentlich herumgesprochen. Jahrelang wurde dies kommentarlos hingenommen, als sei es ein Naturgesetz. Erst als herauskam, dass in einigen Kliniken Ärzte versucht hatten, zugunsten ihrer Patienten zu manipulieren, manchmal aus finanziellen Gründen, meistens aber um eine durch die deutschen Transplantationsvorschriften geschaffene Notlage abzumildern, wurde dem Thema eine gewisse Aufmerksamkeit zuteil…

Dabei widersprechen die von der Bundesärztekammer vorgeschriebenen Richtlinien, z.B. zur Erteilung einer Spenderleber, den entsprechenden EU-Vorschriften. Ethisch sind sie sehr fragwürdig und medizinisch längst überholt.

David Gall

So kann es inzwischen vorkommen, dass ein Arzt einem Patienten, der sich nach der Diagnose Leberkrebs um eine Transplantation bemüht, erst einmal den Gang zum Bundesverfassungsgericht empfiehlt, um gegen Vorschriften zu klagen, die ihm die aussichtsreichste therapeutische Option, nämlich die Lebertransplantation, verwehren.

Obwohl dies einem Todesurteil gleichkommen kann, hat bisher noch kein Patient diesen Schritt unternommen. Nach einer entsprechenden Diagnose benutzen die meisten Patienten ihre Ressource,n um mit der Erkenntnis einer lebensbedrohlichen Erkrankung fertig zu werden. Hier rächt sich die jahrelange Verdrängung der Sterblichkeit. In unserer auf Vitalität ausgerichteten Gesellschaft scheint es legitim, die erschütternde Realität rund um Themen wie Organtransplantation, Überlebenschancen, Krankheit und Pflegenotstand, Bedürftigkeit und Schwäche auszublenden. Es kann dann umso erschütternder sein, wenn man von Missständen erfährt, von denen immer nur jene etwas wissen, die direkt davon betroffen sind.

So laufen Patienten mit einem Leberkarzinom heute Gefahr als Kollateralschaden des aktuellen Organ-Spendenskandals in die Statistik einzugehen. Eine Gefahr, die noch größer wird, wenn Kriterien, z. B. die der Milan-Skala* eher darwinistisch-ideologisch, als medizinisch-ethisch ausgelegt werden. Überlebenschancen können so abgesprochen werden, bevor man den Patienten überhaupt gesehen hat.

Was tun?

Selbst die Verlegung des Lebensmittelpunkts ins europäische Ausland wird einfacher und erfolgversprechender sein, als eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Doch wer kann und will sich und evtl. seiner Familie so eine Umstellung zumuten, in dieser Lage, wo sich die meisten Patienten nach einem sicheren Platz, nach Geborgenheit und Unterstützung sehnen.

Da kann sich nach blankem Entsetzen auch Verzweiflung einstellen. Und so kommt es, dass es ab und zu eine Meldung an die Öffentlichkeit schafft, obwohl diese große Widerstände gegen eine Konfrontation mit der Vergänglichkeit mobilisiert. Eine solche Meldung berichtete von einem 30-jährigen Mann, der seinen Platz auf der Warteliste bei Eurotransplant streichen ließ und sich stattdessen einen Platz zum Sterben suchte. Das Warten sei schlimmer als der Tod und am unerträglichsten sei die Gleichgültigkeit der Mitmenschen gegenüber seinem Leben oder Sterben.

Meistens ist es ein stilles und grausames Siechtum, durch starre Regeln eher verstärkt, als gelindert. Treffen kann es jeden und alle paar Stunden stirbt ein Mensch auf der Warteliste, es kommt auch zum Selbstmord.

Ein Horrorszenarium in der Gegenwart, im reichsten Land Europas. Und niemand will verantwortlich sein, schon gar nicht die Presse, und so weist die Süddeutsche Zeitung, stellvertretend für die ganze Zunft, Vorwürfe zurück, wonach die negative Berichterstattung in Folge des Transplantationsskandals, die in Deutschland ohnehin schon traditionell niedrige Spendenbereitschaft, weiter gesenkt habe. Immerhin habe man einem verdrängten Thema überhaupt einmal Raum gegeben, so die SZ.

Tatsächlich hat die Presse viel über Manipulationen, Bevorzugung arabischer Privatpatienten und zweckentfremdete Organe z.B. in der Schönheitschirurgie geschrieben, auch die Berichterstattung über Organhandel z.B. in Brasilien, in Rumänien oder im Sinai, jagte manchem Leser das Gruseln über den Rücken. Doch beim Streit, ob nun die Ärzte schuld sind oder die Presse oder gar einzelne Patienten, die ihre Ärzte falsch informierten, indem sie z.B. einen leberzerstörenden Alkoholkonsum verschwiegen, bleibt eine Instanz ganz außen vor, als habe sie mit all dem nichts zu tun: Die Bundesregierung.

Das ist insofern tragisch, als es genau die Aufgabe der Legislative ist, die Gesetze so anzupassen, dass sie den Nöten der Menschen gerecht werden. Dazu gehört es, gerade unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, auch wenn es keine Stimmen bringt. Leider ist der Geist der Aufklärung nicht immer populär. Manchmal ist es schwierig, komplexe Themen zu vermitteln, insbesondere, wenn Menschen dazu tendieren, ein Thema zu verdrängen.

Doch gerade deshalb werden die Regierungen mit entsprechende Befugnissen ausgestattet. Diese Befugnisse sind deshalb auch Verpflichtung, denn niemand sonst kann die Gesetze rechtmäßig ändern, nicht die Medizin, nicht die Presse, nicht die Kranken.

Woran liegt es, dass die Regierung noch immer keine Anstalten macht, sich des Themas anzunehmen? Welche Position vertritt sie überhaupt? Hat sie sich dazu informiert und eine Meinung gebildet? Waren fast zwölftausend Menschen auf den Wartelisten bisher keine ausreichende Motivation?

Haben andere Menschen in Notlagen die Aufmerksamkeit der Bundesregierung beansprucht?

In den Tagesthemen wurde gerade berichtet, dass sich sowohl Bundeskanzlerin Merkel als auch Bundesfinanzminister Schäuble ganz intensiv und persönlich darum gekümmert haben, dass verdiente, wenn auch gescheiterte Banker im Rahmen der Finanzkrise nicht auch noch unter Einbussen bei Bonizahlungen leiden müssen. Hier zeigt es sich, dass unsere Regierung, gerade auf höchster Ebene, durchaus in der Lage und auch Willens ist, sich existentieller Nöte Einzelner anzunehmen. Jedenfalls konnte das ganz unbürokratisch und engagiert formulierte Regelwerk schon so erfolgreich umgesetzt werden, dass Commerzbankchef Blesing inzwischen wieder über die Millionengrenze beim Jahresgehalt kommen kann, obwohl die Bank in erster Linie nicht durch seine Leistung, sondern durch Milliardenzuschüsse aus der Steuerkasse glänzt.

Die spanische Regierung hat andere Prioritäten und orientiert sich an der medizinischen Machbarkeit. Außerdem scheint die spanische Regierung davon auszugehen, dass sich Menschen grundsätzlich gerne an der Rettung eines Mitmenschen beteiligen, wenn sie es können, selbst dann, wenn sie bereits tot sind. Wer dies aus welchen Gründen auch immer nicht möchte, wird selbstverständlich in seiner Entscheidung respektiert. Er muss diese nur dokumentieren, mit einem „negativen Spenderausweis“ sozusagen (Widerspruchslösung). Eine einfache Lösung, die davon ausgeht, dass die Mehrheit bereit ist, zu spenden und die Minderheit bittet die Ablehnung zu formulieren und nicht die Zustimmung.

Eine talmudische Geschichte beschreibt G`tt, den man nicht beschreiben darf, wie er einige Rabbiner belauscht und sich königlich über die Klugheit seiner Geschöpfe freut; so wie ein Vater sich über seinen Sohn freut, der ihn gerade beim Schach geschlagen hat. „Sie sind mir gleich geworden“, ruft G’tt erfreut, „sie können Leben retten!“
So gesehen geht es hier auch um ein religiöses Gebot, denn „Pikuach Nefesch“, die Errettung eines Menschenlebens, ist von so hohem Wert, dass es über allem steht, sogar über dem religiösen Gesetz, z.B. am Schabath.

Die überragende Bedeutung wird auch durch ein bekanntes Talmudzitat (BT Sanhedrin 37a), betont:
„Wer ein Menschenleben rettet, der ist so, als habe er die ganze Welt gerettet“…

Es ist so, dass vieles, was heute gemacht werden kann, noch vor wenigen Jahren einem Wunder gleichgekommen wäre. Auch der Amtsarzt im Bezirk des oben genannten 30-jährigen Nierenpatienten (AZ) meint: „Es ist alles da, um Leben zu retten, Dialyse- und Transplantationszentren, auch genug Geld. Es fehlt nur an der (Anm. D. G .: dokumentierten) Spendenbereitschaft. Deutschland stand im Vergleich der europäischen Länder schon länger sehr weit hinten an, was die Spendenbereitschaft betrifft“, so der Amtsarzt, aber nach dem Organspendenskandal sank selbst diese niedrige Bereitschaft um 30 Prozent und mehr.
Es ist dringend geboten, dass Vertreter von Politik, Gesellschaft und Religion gemeinsam daraufhin wirken, dass  die von der Bundesärztekammer vorgeschriebenen Richtlinien überarbeitet werden. Gegenwärtig werden in Deutschland so viele Nieren, Lebern, Lungen, Herzen, Speiseröhren begraben oder verbrannt, dass man alle die noch auf der Liste stehen, innerhalb weniger Wochen versorgen könnte. Vielleicht zwölftausend Leben. Wenn man es denn wollte.

  1. Die Milanskala besagt, dass ein Patient mit Leberkrebs (HCC) nur solange auf der Transplantationsliste vorrücken kann, solange kein weiteres Karzinom bei ihm vorliegt. Die Diagnostik erfolgt durch MRT im Abstand von ca. zwölf Wochen. Dabei darf ein einziges Karzinom höchstens 50 mm messen. Liegen mehrere Herde vor, darf der größte von höchstens drei Herden, höchstens 30 mm messen.

Doch selbst hier gibt es unterschiedliche Lesarten:

  1. Finden sich entsprechende Läsionen, so müssen diese zuerst operativ oder pharmako-invasiv, z.B. duch Chemo-Embolisation, entfernt oder verödet werden. Ein singulärer (einziger) Herd soll höchstens 50 mm messen, für die Chemo-Embolisation ist er da evtl. schon zu groß und sollte eher operativ entfernt werden. Sind es mehrere Herde (<3), sollten sie höchstens 30 mm messen. Mitgezählt werden Läsionen erst ab 10 mm.
  2. Ein Patient mit Leberkrebs rückt auf der Transplantationsliste alle drei Monate, jeweils nach MRT-Untersuchung, vor, solange kein weiteres Karzinom vorliegt. Die Mailänder-Richtlinie besagt, dass ein einzelnes Karzinom höchstens 5.0 cm groß sein darf. Wenn es mehr als ein Karzinom ist, dürfen es nur 3.0 cm sein, in höchsten 3 Herden. In manchen Zentren scheint man davon auszugehen, dass dies nur einmal geschehen dürfte. So würde ein Rezidiv stets zur Entfernung aus der Liste führen. Welche Lesart gerade in welchem Zentrum gilt, ist für Patienten kaum auszumachen.

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