pharmacon.net Geschichte und Ethik der Heilberufe
Ein Glossar von Herman
Hans Waldvogel, zu seinem im Februar nächsten
Jahres erscheinenden "Handbuch der Schmerztherapie", welches
er Ernst von der Porten, einem der Wegbereiter der moderenen
Schmerztherapie gewidmet hat. Ernst von der Porten wurde von der
Gestapo, gemeinsam mit seiner Frau, im "freien Teil Frankreichs"
in den Tod getrieben.
Schmerz und Erinnerung
Gesellschaft, Ethik und die Fähigkeit zum
Leben
"Es
gibt keine patriotische Kunst und keine patriotische Wissenschaft.
Beide gehören, wie alles hohe Gute, der ganzen Welt an und können
nur durch allgemeine freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden,
in stetiger Rücksicht auf das, was vom Vergangenen übrig und
bekannt ist, gefördert werden." (Goethe)
Die moderne 1846 in Boston über
perioperative Schmerzausschaltung geborene Narkoselehre -- die spätere
"Anästhesiologie" und heutige perioperative Medizin -- ist
das vielfältigste klinische Fach überhaupt, verbindet es doch
angewandte Physiologie mit klinischer Pharmakologie, den Makrokosmos
klinischer anatomischer, chirurgischer, medizinischer Bereiche mit dem
rezeptoralen Mikrokosmos der Zelle und dringt über Gentranskriptionen
in deren Zukunft ein.
Die klinische Anästhesie hat damit nicht
nur unbewusst den perioperativen Antinozizeptionsschutz vorbereitet und
damit eine breite Basis für Schmerztherapie, sondern auch
grundsätzlich das neue Fachgebiet "perioperative Medizin"
geschaffen. Dem Anästhesisten und Schmerztherapeuten werden adäquate
Kenntnisse in Innerer Medizin, Chirurgie, Neurologie, Psychologie und
Psychiatrie abverlangt. Verständnisse in Chemie, Physik, Informatik und
nicht zuletzt technische und manuelle Begabung sind zur Berufsausübung
notwendig.
Die heutige Gesellschaft ist zerrissener
denn je. Dies betrifft auch die medizinische Ethik. 1999 wurde durch
eine Intervention des Basler Kantonsarztes eine durch die private
Sterbebegleitorganisation Exit angeordnete aktive Tötung einer
30-jährigen, depressiven Frau durch einen als Todesengel
funktionierenden Pfarrherrn im letzten Moment verhindert. Dieser Vorfall
wurde in den Boulevardblättern während 2 Tagen diskutiert. Der "Souverain"
findet sich in boomenden und dem entsprechend finanziell starken Vereinen
zur "humanen Sterbebegleitung", verweigert aber die
notwendigen Mittel für eine effiziente, flächendeckende Palliativ-,
insbesondere Schmerzmedizin.
Die Vernichtung "lebensunfähigen
Lebens" (Zitat in Bezug auf die junge depressive Patientin) wird
durch biedere, als fliegende Todesengel funktionierende Pfarrherren --
in Seldwyla die Herren Pfarrer Kriesi und Sigg --
"demokratisiert": ist die nationalsozialistisch-ideologisierte
Vernichtung "lebensunwerten Lebens" ( ®
Binding u. Hoche) im Rahmen der gesellschaftlichen Verwahrlosung als
schlichtes "Konsumgut" einer Wegwerfgesellschaft
wiedererstanden?
Wie ist es dazu gekommen? Weshalb trifft
Gleiches immer wieder -- aber unter anderen Masken auftretend -- uns in
unserer eigenen bequemen Eingelulltheit?
Langemark:
Die missbrauchte Jugend und Ihr Ende im
"Studentenfriedhof". ® Georg Trakl und Kokain, ® Franc Marc und August Macke; Hermann Löns; Ernst Wilhelm Lotz; Reinhar Johannes Sorge; Ernst Stadler, August Stramm
Ludendorffs totaler Krieg mit Kampfgas und
Bombenabwurf über offenen Städten mündete direkt in die
Gesellschaftsrevolutionen von 1917/18.
09.11.1918: Gründung der Weimarer Republik
In der nachfolgenden
bürgerkriegsähnlichen Rechts-Links-Polarisation zwischen Freikorps-
und Rätementalität, Dolchstosslegenden und den "Protokollen der
Weisen von Zion", zerbrach langsam die Weimarer Republik.
Der Industrielle (AEG) und
Visionär Walter Rathenau (Berlin 1867--1922), der die Dimensionen des
grotesk-irrealistischen Versailler Hass- und Demütigungs-Vertrages
(auch "Aspirin"-Patent, ® Buch E) auf internationaler Ebene
mit hohem Geschick ad absurdum führen wollte, wurde 1922 von den
rechtsradikalen, antisemitischen Geheimbündlern (Organisation Consul)
Kern und Fischer ermordet.
09.11.1923: Hitler-Putsch
Nur wenig später -- 1933 -- führte eine
"tausendjährige Pervers-Revolution" in die Abgründe einer
Wannseekonferenz und gipfelte im Berliner Sportpalast im frenetisierten
Massenaufschrei zur totalen Selbstzerstörung.
Ein Großteil unseres eigenen
intellektuell-kulturellen Ichs ist in diesen Verwirrungen nicht nur
verloren gegangen, in die Neue Welt abdiffundiert, sondern schlichtweg
unwiederbringlich eliminiert worden. Der zwangsexilierte Bruno Walter
(Berlin 1876-1962, Beverly Hills) endete seine Autobiographie
bezeichnenderweise mit dem Jahr 1945.
Die im "goldenen
Prag" noch 1937 zu Freunden gewordenen Dichter,
Schriftsteller und Wissenschafter H.G. Adler (1910--1988), Franz
Bärmann Steiner (1909--1952) und Elias Canetti (1905--1994; 1938: "Masse
und Macht") trafen sich erst 1947 wieder -- außerhalb der
ehemaligen "Heimat von Dichtern und Denkern" --, nämlich in
London.
Wer kennt Viktor
®
Ullmanns
Opern "Der Sturz des Antichrist" oder "Der Kaiser von
Atlantis"?
09.11.1938: Reichskristallnacht
Der Schmerzprophet
®
Ernst von der Porten, dem dieses Buch gewidmet ist, endete sein Leben
wenige Wochen vor dem "Christfest" 1940 als Hetzopfer einer
Gestapo-Meute.
Der größte Epiker deutscher Sprache in
diesem Jahrhundert,
Joseph
Roth (Brody/Wolhynien 1894--1939 Paris), soff sich in Paris im
Angesicht des drohenden Untergangs bewusst zu Tode: unsere Schulabgänge
sind dank visueller Medienmanipulationen besser über den
Golfkrieg "aufgeklärt" als über unsere eigene Geschichte und
damit eigene Identität. Sollte alles umsonst gewesen sein?
An der Côte dAzur, von Nizza über
Sanary-sur-Mer -- der damaligen "Hauptstadt der deutschen
Literatur" (Ludwig Marcuse) -- wo Anton Räderscheidt (Blaubach
1892--1970 Köln) in seinem Haus "Le Patio" die aufkommende
Fluchtstimmung eines Thomas Mann, Lion Feuchtwanger oder Alfred
Kantorowicz mit seinen Kochkünsten aufzuheitern versuchte -- bis Port
Bou, wo heute neckermännische Amnestische und Amnesierende bei
"300 Tagen Sonne im Jahr" den Tag bei einem Glas "Pastis"
abrunden, dort haben Walter Benjamin (1892--1940 Port Bou, Suizid mit
Morphin vor Gestapohatz), Walter Hasenclever (Aachen 1890--1940, Suizid
in Les Milles), oder selbst noch nach der Katastrophe der ausgebrannte
Klaus Mann 1949 (geb. 1906 in München: er ruht auf dem "Cimitière
Protestant" in Cannes) sich nur noch "Freund Hein"
anvertrauen können.
Die
Heimsuchung des europäischen Geistes... "The Last Day: Words have lost their meaning, their validity ... Death is my answer, suicide my program." (Klaus Mann)
Dort in der Sonne Nizzas ist auch Theodor
Wolff von italienischen Häschern der Gestapo ausgeliefert worden
(Berlin 1868--1943 KZ Sachsenhausen).
Die letzte, rettende Kraft einer Martha
und Leon Feuchtwanger, einer Katja und Thomas Mann (Lübeck 1875--1955
Zürich; 1933 Emigration; sein Ehrendoktortitel der Universität Bonn
[1919] wurde ihm 1936 im Rahmen einer "legalen Ausbürgerung"
aberkannt), einer Alma und Franz Werfel (1890--1945 Los Angeles) hatte
ihnen gefehlt.
Zu gleicher Zeit flüchtete sich eine Ina
®
Seidel in eine Naturmystik.
Sanary-sur-Mer, die Hauptstadt der
deutschen Literatur war danach wieder ein einfaches Fischerdorf und
später Ferienstädtchen: die Spuren der Fluchtpfade über die Pyrenäen
sind überwachsen, die Pfiffe der Dampflokomotiven von Pétains
"Geisterzügen" über Bayonne in die nördlichen
Vernichtungslager längstens verhallt.
Nach der Stunde Null wurde das Ungeheure
verdrängt und in den Alten Bundesländern mit immer brüchiger
gewordenen Wertvorstellungen übertüncht - bis zur
"Implosionsrevolution von 1968". Unter einem roten und
kleinbürgerlichen "Ismus" hinter zugemauerten, mit Minen,
Hunden und elektrisch gesicherten "Friedensgrenzen"
verschanzten "demokratischen Republik" setzte das
Rechtsstaatsbewusstsein eines Roland Freisler in dasjenige einer Hilde
Benjamin um, verbrämt im irgendwie "déja vu- déja entendu-
Rhetorikvirtuosentum" des DDR-Hofstars, Herrn Chefkommentator
Karl-Eduard von Schnitzler ("Hygiene im Äther").
Bis dann "die Mauer" (....the
Berlin Wall, another source of pain....Allan Basbaum) umfiel
um dann überhastet, komplett mit Baggern eingeebnet, höchstens
fugitive amnestische Löcher "in der Mark" zu hinterlassen.
09.11.1989: Fall der Mauer in Berlin
Die seit 1917, 1933, 1968 und 1989 sich
fortlaufend aushöhlende Basis unserer intellektuellen Existenz, die
Schule -- im weitesten Sinne -- wurde noch weiter geschwächt durch
Wegrationalisierung seiner letzten europäischen Kulturanker, Rom und
Athen. Ein einzelner Spielbergfilm hat mehr Lichtschimmer in das
schwarze Loch der kulturellen Amnesiephase geworfen als der lieblose,
offizielle Geschichtsunterricht.
Und nur eine kulturelle Amnesie hat es
zugelassen, dass ein 1941 geborener, am goldenen Zürichberg
wohlgeborgener Bruno Grosjean-Doessekker, moralisch ungestraft im
Suhrkamp-Verlag seine fiktiven «Bruchstücke, aus einer Kindheit
1938--1948» unter dem Pseudonym Benjamin Wilkomirski schamlos
vermarkten durfte und damit Hand bot für immerkehrende Revisionismen.
"Man
kann das Gegenwärtige nicht ohne das Vergangene erkennen." (Goethe, 1787)
Trotz einer immensen Fülle an Daten und
Fakten haben wir offensichtlich verlernt, die Geschichte anzufordern, zu
verstehen, als integralen Teil unseres Lebens zu verstehen: das hat u.a.
auch der "1,3 Milliarden-Peanuts" (Zitat UBS
Generaldirektor) Dialog der Schweizer Banken gezeigt. Die zunehmende
geistige Verwahrlosung lottert sich als "panem et circenses-Prinzip"
bei tödlichen Fussballweltmeisterschaften-Hooliganismen und
friedfertig-törichten "Street- und Loveparades" aus. Am Ende
droht eine neue Flut "neuer" Ideologisierungen.
Ich
habe im Vorkrieg die höchste Stufe und Form individueller Freiheit
und nachdem ihren tiefsten Stand seit hundert Jahren gekannt, ich bin
gefeiert gewesen und geächtet, frei und unfrei, reich und arm. Alle
die fahlen Rosse der Apokalypse sind durch mein Leben gestürmt,
Revolution und Hungersnot, Geldentwertung und Terror, Epidemien und
Emigration; ich habe die großen Massenideologien unter meinen Augen
wachsen und sich ausbreiten sehen, den Faschismus in Italien, den
Nationalsozialismus in Deutschland, den Bolschewismus in Russland und
v.a. jene Erzpest, den Nationalismus, der die Blüte unserer
europäischen Kultur vergiftet hat. (Aus dem Vorwort zu Die Welt von Gestern von Stefan Zweig)
30
Jahre "68er"-Nivellierung haben es erbracht: seit 1998 sind
nun im nördlichhelvetischen Seldwyla "Maturi" (früher:
"Hochschulreife"!) nicht mehr zum Studium der Human-Medizin
zugelassen ("Numerus clausus"): statt humanistischer Reife
klammheimlich ausgeheckte "Eignungsprüfungen", ausgeheckt
von denjenigen, die im langen Marsch durch die Institutionen das
"Maturasystem" gezielt und erfolgreich ausgehöhlt und
entwertet haben.
In der Stadt St. Gallen, wo noch vor knapp
mehr als 1000 Jahren inmitten von damals bärenbewohnten Hügeln Mönche
im Wegekreuz zwischen Irland, Gallien und der Insel Reichenau, zwischen
Rom, Aachen und Speyer, Zeichen einer einzigartigen Zivilisation setzten
und -- so fast nebenbei -- auch eine der großartigsten (Stifts)-Bibliotheken
der Welt gründeten, müssen ab 1999 die "Gymnasiasten" auf
dem Schulweg und in den Schulhöfen durch offizielle
"Schulsozialarbeiter" vor der grassierenden und gewalttätigen
Verwahrlosung "staatlich assistiert und zu ihrem eigenen Schutz
begleitet werden": das Zeitalter des totalitären Wohlfahrtsstaat
hat nun auch Seldwyla erreicht.
Das abgeklungene Zeitalter der offenen,
politischen Manipulation der Fachwissenschaften (Stichwort
"Volkshygiene") ist durch dasjenige der klammheimlichen,
sachfremdem Bevormundung (Stichwort "Ökonomie") ersetzt
worden.
Braun-, Schwarz- und Rothemden sind
"out". Unter neu-ökonomischen Masken wird die aktive
Euthanasie von unproduktiven "Ausgedienten" greifbar:
Divinum
est sedare oeconomiam! ... et dolorem et miseriam?
War alles vergeblich? Bedrängt in meiner
eigenen Identitätskrise habe ich versucht, klammheimlich im Glossarteil
mittels kleiner, unscheinbarer Akzente, junge Kollegen zu initiieren,
alte Bibliotheken zu konsultieren, um die dortigen -- trotz
Bücherverbrennungen -- noch schlummernden Schätze vor dem großen
Vergessen zu bewahren und sich damit selbst, seine eigene Identität
wieder zu entdecken, zu verteidigen und das unter multiplen Masken
immerkehrende Böse frühzeitig zu erkennen!
Der Engländer Overton (Cheshire 1865-1933
Lund) hat vor 100 Jahren als Botaniker dank imponierender Studiendesigns
heute noch faszinierende Narkosetheorien erarbeitet (1901:" Studien
über die Narkose"), die er in Zürich und Lund publiziert hat:
welcher junge Assistenzarzt hat heute im sogenannten Zeitalter der
Information und Kommunikation ein Auslandjahr eingebaut, mehrere
Sprachen intus?
Der Hamburger Mattias Jakob Schleiden
(Hamburg 1804-1881 Frankfurt) -- mit Theodor Schwann (Neuss 1810--1882
Köln) Mitbegründer der Zelltheorie -- war Jurist, Botaniker und im
baltischen Dorpat russischer Staatsrat: undenkbar im heutigen Zeitalter
der sogenannten "Toleranz"!
Anästhesiologie und Schmerztherapie sind
nicht nur interdisziplinär, sondern auch politisch im weitesten Sinne.
Wenn wir unsere eigene große und schreckliche Geschichte nicht kennen
und zu verstehen suchen, werden wir die Zeichen einer Beuys'schen
Schmerzplastik oder aktuellen im Staate Oregon, in Holland oder "zu
Hause klammheimlich am Stammtisch geführten"
Euthanasiediskussionen nicht folgen können. Falls es die
Wittgensteinschen
Schmerzflecken nicht gegeben hat, existieren wir -- und damit auch
unsere Anästhesie und Schmerzpatienten -- nicht mehr.
Aber
jeder Schatten ist im letzten doch auch ein Kind des Lichts, und nur
wer Helles und Dunkles, Krieg und Frieden, Aufstieg und Niedergang
erfahren, nur der hat wahrhaftig gelebt. (Aus: Die Agoniie des Friedens von Stefan Zweig)
Geschichte ist nach dem verstorbenen
Basler Leiter der Augenklinik Friedrich Rintelen ein "Antidot gegen
den Positivismus unseres Zeitalters der Technik und der technisierten
Wissenschaft, die das metaphysische Denken und eine philosophischere
Existenz des Menschen auszuschalten im Begriffe steht". Eine
geschichtliche Denkart sei deshalb "stark und zugleich ihres
Schicksals nicht gewiß, stolz auf ihre Kräfte und zugleich in Furcht
vor ihnen" (Ortega Y Gasset).
Sir
Winston Churchill 1944 vor dem Royal College of Physicians: "The longer you can look back, the forther you can look forward."
Der
spanische Philosoph George Santayana (Madrid 1863 Harvard University Paris Rom 1952): " Progress far from consisting of change, depends on
retentiveness. Those wh cannot remember the past are condemned to
repeat it."
"Analgetika,
Antinozizeptive, Adjuvanzien. Handbuch der Schmerztherapie" H.H.Waldvogel, Dr. med. FMH, IASP, DGSS, SFD
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